Kirchenaustritte
Gespräch mit Ausgetretenen suchen
Die Bertelsmann-Stiftung hat die Ergebnisse ihres Religionsmonitors 2023 veröffentlicht. Dabei wird deutlich, dass die Bindung der Menschen in Deutschland an die Kirchen abnimmt. Laut Religionsmonitor hat jedes vierte Kirchenmitglied im vergangenen Jahr über einen Austritt aus der Kirche nachgedacht. Bei den 16- bis 24-Jährigen zeigen sich sogar 41 Prozent entschlossen, die Kirche zu verlassen, unter den 25- bis 39-Jährigen sind es 35 Prozent. Dieser Trends spiegelt sich auch in den vorläufigen statistischen Zahlen der EKHN wider. Die Kirchenaustritte haben 2021 um fast 6000 gegenüber dem Vorjahr zugenommen.
Glaube ohne Kirche?
Laut Religionsmonitor gehen nur etwa 17 Prozent mindestens einmal im Monat zum Gottesdienst – eine genau so große Gruppe der Kirchenmitglieder geht gar nicht in die Kirche. Nur 38 Prozent der Befragten gab an, ziemlich stark an Gott zu glauben. Jede vierte Person in Deutschland glaubt nicht an Gott. Vor zehn Jahren war es noch fast die Hälfte der Deutschen. Die Abwendung von den Kirchen bedeutet aber nicht unbedingt zugleich eine Abwendung von Religion generell: 92 Prozent derer, die austreten wollen, stimmen der Aussage zu, dass "man auch ohne Kirche Christ sein" könne.
Alte Erkenntnisse im neuen Gewand
Nach Worten des hessen-nassauischen Pressesprechers Volker Rahn sind die Erkenntnisse der Stiftung aber nicht wirklich neu. „Wir haben hier bekannte, ernüchternde Erkenntnisse in vorweihnachtlichem Gewandt vorliegen“, so Rahn. Bereits die evangelischen Mitgliedschaftsuntersuchungen der zurückliegenden Jahre sowie eine ökumenische Austritts-Umfrage vom Frühjahr hätten eine „massive Entfremdung und zunehmende Distanzierung“ zur Kirche sowie einen „erschreckenden Traditionsabbruch“ gezeigt. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) steure beispielsweise mit regelmäßigen Schreiben an alle evangelischen Haushalte, der Impulspost, gegen. Zudem sei Hessen-Nassau die einzige evangelische Kirche, die mit großen Jugendkirchentagen gegen den Traditionsabbruch kämpfe. Ein in Planung befindlicher neuer Internetauftritt, solle sich zudem „viel stärker an dem orientieren, was Menschen an Hilfe, Orientierung und Spiritualität heute brauchen“.
Kirchenbauten und viele kirchliche Angebote sind gefragt
Inwieweit die Menschen tatsächlich ein Bedürfnis nach innerer Einkehr in einer Kirche haben, sieht Annette Majewski nahezu täglich mit eigenen Augen. Die Pfarrerin für Stadtkirchenarbeit in Wiesbaden erlebt: „Hunderte Menschen besuchen die offene Marktkirche, um Stille zu finden, in sich zu gehen.“ Sie gehört zum Team des Kirchenladens „Schwalbe 6“ in Wiesbaden, zu dem auch eine Eintrittsstelle gehört. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Angebote wie Oasentage, Pilgerwanderungen oder Hilfsprojekte für Kinder. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hätten sich bisher nicht darüber geäußert, dass sie unzufrieden mit der Kirche seien – ganz im Gegenteil: „Eine Frau, die sich länger an einem unserer Projekte beteiligt hat, ist wieder in die Kirche eingetreten.“
Geld als ein entscheidender Grund
Pfarrerin Majewski vertritt die Auffassung, dass die Kirche deutlicher machen müsse, „dass all die schönen Kirchen, Chöre, Konzerte, Jugendgruppen nur existieren können, weil sie durch die Kirchensteuer finanziell von den Mitgliedern getragen werden.“ Sie sucht auch das Gespräch mit anderen Menschen außerhalb der Kirche. Dabei hört sie immer wieder einen Austrittsgrund: „Viele müssen finanziell den Gürtel enger schnallen. Einige erzählen, dass sie dann vom Steuerberater den Tipp erhalten, aus der Kirche auszutreten.“
Dabei sieht die Regelung so aus: Die echte Belastung durch die Kirchensteuer ist aber meist um 20 bis 48 Prozent geringer, weil sie bei der Einkommensteuererklärung als Sonderausgabe geltend gemacht werden kann. Das verringert die zu zahlende Einkommensteuer. Wer keine Lohn- oder Einkommensteuer entrichtet, bezahlt auch meist keine Kirchensteuer. Dies trifft in der Regel auf Personen zu, die keinen oder nur einen geringen Verdienst haben.
Wertschätzung für einzelne kirchliche Projekte bei abnehmender Bindung an Kirche
Dennoch nimmt auch Annette Majewski wahr, dass sich Menschen nicht mehr längerfristig an Vereine oder Institutionen binden wollen. Durch Gespräche erfährt sie: „Die Identifikation mit der Kirche ist nicht besonders stark, sondern eher mit konkreten Projekten.“ Gerade erlebt sie großen Zuspruch für die Christbaum-Aktion an der Marktkirche, die bedürftigen Kindern zugutekommt: Kinder aus sozialen Brennpunten hängen ihre Wünsche an den Baum und vorbeikommende Passanten können sie erfüllen. Wenn sie die Geschenke dann im Kirchenladen abgeben, erlebt sie die Wertschätzung für diese Aktion. Trotzdem bemerkt sie, dass vor allem während und nach der Pandemie die Eintritte in die Kirche zurückgegangen sind: „Waren es früher rund 60 neue Eintritte pro Jahr, waren es bisher in diesem Jahr Zwölf.“
Als Kirchengemeinde Kontakt zu Ausgetretenen aufnehmen
Dennoch geben ihr die Wiedereintrittsgespräche wertvolle Hinweise, denn diese Menschen hatten sich vor mehreren Jahren zunächst entschlossen, aus der Kirche auszutreten. Dabei wird deutlich, wie wichtig es ist, dass evangelische Kirchengemeinden den Kontakt zu den Ausgetretenen aufnehmen, nachdem sie die Liste über das Meldewesen erhalten haben. „Viele bestätigen, dass das Gespräch mit der oder dem Pfarre:in nach einem Austritt nachwirkt. Denn dabei wird signalisiert: Du bist uns wichtig.“ Umgekehrt nehme sie große Enttäuschung wahr, wenn keinerlei Reaktion von Seiten der Kirche erfolgt sei. Sie ermutigt Kirchengemeinden, das Gespräch aufzunehmen: „Zuhören ist ganz wichtig. Dabei lässt sich mehr über die Gründe erfahren, vielleicht tauchen auch neue Perspektiven im Gespräch auf.“ Von intensiven Nachhaken oder Druck rät sie ab.
Kirche der Zukunft
Große Chancen für die Mitgliederbindung sieht sie in den Übergangsritualen des Lebens. „Hier sollte die Kirche flexiblere Angebote machen: ein neu geborenes Kind segnen, eine Candle-Light-Trauung, Segensangebote im Alltag. Ich sehe, wie viele Mut machende Worte im Kirchenladen mitgenommen werden – gerade Segensrituale in Lebensübergangen werden sehr gewünscht.“
Diese Ideen dürften auch zum Reformprojekt „ekhn2030“ passen, denn hier möchte die EKHN die Lebenswelt Jüngerer und junger Erwachsener besonders in den Blick nehmen. Die hessen-nassauische Kirche hatte angesichts des gesellschaftlichen Wandels den umfassenden Reformprozess „ekhn2030“ eingeleitet. Ziel ist es, in Zukunft noch erkennbarer mitglieder- und gemeinwesenorientiert zu arbeiten. Derzeit ist dafür unter anderem ein spezielles Projekt in Planung, das es Gemeinden vor Ort noch leichter machen soll, ihre Mitglieder mit den Angeboten zu erreichen, die sie aktuell brauchen. Und dort sind auch die Maßnahmen angesiedelt, von denen Pressesprecher Rahn berichtet: Den Jugendkirchentag für über 3.500 Teilnehmende und die Impulspost an die EKHN-Mitglieder, die regelmäßig fast eine Million Mal verschickt wird.
Mitgliedschaft mit Leben füllen